1. a- und e-Texte
2. Betrachtungsstandpunktaufgabe
3. Bewegung
4. Dekonstruktion
5. Dissoziation
6. Eskapismus-Utopie
7. Freiheit
8. Freiheitssehnsucht
9. Freiheitstraum
10. Gedankenreise
11. Gegenwartsauflösung
12. Grammatische Entgrenzung
13. Grundsatz des Indianerpferds
14. Helle Flecken
15. Ich-Auflösung
16. Textstellenprovokation
17. Überlagerung
18. Unerklärliches erklären
19. Universalität
20. Unwahrscheinlichkeit gelingender Kommunikation
21. Willkür
22. Written Noise
23. Zielverwirrung
Schön, spannend, interessant, einleuchtend, erhellend, augenöffnend, aufrüttelnd, welthaltig, herausfordernd, poetisch, anrührend, faszinierend, unheimlich, provozierend, befremdend, verfremdend, schräg, toll, abgefahren, schlecht, langweilig ärgerlich, gut gemacht, klug choreographiert oder auch kafkaesk. Wenn wir über Literatur sprechen und ihre ästhetische Wirkung zu benennen versuchen, tauchen bestimmte Adjektive immer wieder auf.
Doch sind Franz Kafkas Texte tatsächlich nur kafkaesk? Sind sie nicht auch schön? Und wenn ja – warum? Falls nein – was dann? Sind sie zum Beispiel besonders literarisch? Oder besonders aktuell und realistisch? Oder besonders „gesagt“ und „klein“? Oder irgendwie lila? Faszinieren sie uns oder lassen sie uns kalt – und weswegen? Unter welchen Kategorien erscheinen sie im öffentlichen Raum, wie sprechen wir privat und intuitiv über sie?In einem Forschungspraxisseminar wurden im Wintersemester 2024/25 mindestens 99 Begriffe gefunden oder erfunden und definiert, mit denen wir unsere ästhetischen Erfahrungen von Kafkas Texten (als gelesene Texte, als Forschungsgegenstand und in ihren Aggregatzuständen in Archiv und Museum) benennen und dadurch unter Umständen auch erst machen können. Zum ‚Begriff‘ konnten dabei Adjektive, Verben, Substantive und deren Kombinationen werden. Alle Begriffe wurden innerhalb eines festen vorgegebenen Umfangs (33, 66, 99, 132 und 165 Wörter
– einmal konnte ein Joker gezogen werden: 333 Wörter oder drei Bilder), dafür mit literarischen Freiheiten definiert.Diese Begriffe können alphabetisch , aber auch nach Kategorien sortiert werden, die immer wieder auftauchen, wie #Spüren #WasDaSteht #Leichtigkeit #Unruhe #Naheliegend #Vertiefer #Verfremder #UmsEckGedacht #GefühlteWahrheit #KleineBegriffe #GrosseBegriffe #NeueWörter.
Zum Abschluss des Seminars wurde noch einmal die Frage vom Anfang wiederholt: „Was heißt das überhaupt für uns: Literatur ästhetisch erfahren?“ Weil ’schön‘ oder ’spannend‘ zu kurz greifen (faszinierend oder obskur sind nicht schön, aber durchaus Auslöser einer ästhetischen Erfahrung; ’spannend‘ passt nur, wenn man es wörtlich nimmt und anders definiert: etwas spannt im Text, ist in ihm in Schwebe, zwischen den Bedeutungen): Literatur ästhetisch erfahren, das ist: von einem Text berührt werden und ihn als Text berühren – ihn intellektuell, emotional und körperlich spüren. Dieses Spüren ist im Fall von Kafkas Texten mit unterschiedlichen Gefühlen verbunden: Leichtigkeit zum Beispiel oder Unruhe.
In den systemtheoretischen Debatten, die um 2000 geführt worden sind, werden diese Adjektive gesetzt, um zwischen Literatur und Nicht-Literatur zu unterscheiden und so Kunst codieren zu können: schön vc. hässlich, interessant vc. langweilig, geschmackvoll vc. geschmacklos, literarisch vc. nich-literarisch. Mehr dazu: Nina Ort, „Zum Gelingen und Scheitern von Kommunikation. Kafkas ‚Urteil‘ – aus systemtheoretischer Perspektive“. In: Kafkas „Urteil“ und die Literaturtheorie. Zehn Modellanalysen, hg. von Oliver Jahraus und Stefan Neuhaus, Stuttgart 2002.
Moritz Baßler am 4.1.2025 in der taz: Unterm Kafka-Massiv begraben.
„Und ich bin ganz sicher: Franz Kafkas Lieblingsfarbe war Lila“, schrieb Arnim Kratzert am 10.5.2024 in der SZ unter dem Stichwort Franz Kafka: Lieber nicht biografisch lesen.
Die Umfänge der Definitionen verweisen auf die Kafka-Texte, die diese ausgelöst haben: 33 – „Wunsch, Indianer zu werden“; 66 – „Der Bau“; 99 – Kafka im Archiv und im Museum (in einer Führung ging es vor allem um Kafkas Band „Betrachtung“, ein Typoskript des „Kübelreiter“ sowie „Kinder auf der Landstraße“; 132 – „Das Urteil“ und „Der Prozess“; 165 – Kafka in der Forschungsliteratur:“Kafkas ‚Urteil‘ und die Literaturtheorie: Zehn Modellanalysen“ (Reclam); „‚Wunsch, Indianer zu werden“‘ Versuche über einen Satz von Franz Kafka“, hg. von Christoph König und Glenn W. Most (Wallstein); „Kafka gelesen: Eine Anthologie“, hg. von Sebastian Guggolz (S. Fischer) und Neue Rundschau 2024/1: „Kafka Kafka Kafka Kafka Kafka“ (S. Fischer).
Begriffe und Definitionen: Daniel Andresz, Hannah Ansel, Victoria Berni, Edin Cehic, Linda Eisenlohr, Lisa Feinauer, Moritz Feuerstein, Heike Gfrereis, Simone Heiß, Alexandra Heydt, Lisa Hufschmidt, Kerstin Koschemann, Eva Katharina Mack, Nele Meißner, Niklas Nietsch, Paulus Panahinik, Maja Pfeifle, Pascal Röder, Lea-Sophie Sauerteig, Marie Schreiner, Svenja Trojan, Angelika Vipond und Dominik Zöbisch.
Impulsführung „Kafka im Archiv und im Museum“: Laura Friedrichsohn.
Idee und Redaktion: Heike Gfrereis
Heike Gfrereis
heike.gfrereis@dla-marbach.de