Sind Lesungen eine europäische Erfindung?
Xiaocui Qiu (Doktorandin Universität Stuttgart und Deutsches Literaturarchiv Marbach):
„Das Rezitieren literarischer Texte besitzt in China eine lange Tradition, auch als Methode des Spracherwerbs, die Gattung ‚Autorenlesung‘ nicht. Der bekannte chinesischen Schriftsteller Qian Zhongshu hat 1949 einen sehr erfolgreichen Gesellschaftsroman veröffentlicht, ‚Die umzingelte Festung‘. Einladungen zu Auftritten lehnte er ab: ‚Wenn man ein Ei kriegt und es einem schmeckt, ist es doch unnötig, das Huhn auch noch kennenzulernen‘. Das scheint mir sehr charakteristisch für die Haltung chinesischer Schriftsteller zu Lesungen. Allerdings verändert sich das in den letzten Jahren. Seit 2017 werden in einer prominenten Fernsehsendung mit dem Titel ‚Vorlesende‘ (朗读者) Autoren eingeladen, u.a. der chinesische Literaturnobelpreisträger Mo Yan (zum Video).“
Zur Geschichte der europäischen Dichterlesung: Gunter E. Grimm, „Nichts ist widerlicher als eine sogenannte Dichterlesung.“ Deutsche Autorenlesungen zwischen Marketing und Selbstpräsentation (2008) und Reinhart Meyer-Kalkus, Geschichte der literarischen Vortragskunst (2020). Aktuelle Positionen wurden im Sommer 2022 mit einem europäischen Literaturfestival diskutiert: Mit Sprache handeln.
Den Blick auf die amerikanische Praxis des „Lecturing“ und damit das öffentliche Auftreten von Autorinnen und Autoren als Vortragende (und eben nicht nur Lesende) lenkt Roman Seebeck in Verkörperung des Intermediären. Überlegungen zu Thomas Manns amerikanischer Vortragskunst (2023).
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