Suhrkamp hat maßgeblich unsere Vorstellung von südamerikanischer Literatur geprägt. Mit Julio Cortázar, Juan Carlos Onetti und dem mexikanischen Nobelpreisträger Octavio Paz präsentierte der Verlag seit den siebziger Jahren gleich drei Jahrhundertautoren, die auch in der deutschen Gegenwartsliteratur deutlich erkennbare Spuren hinterlassen haben.
1963 gab Hans Magnus Enzensberger den ersten lateinamerikanischen Autor in der „Bibliothek Suhrkamp“ heraus: die Gedichte des Peruaners César Vallejo. Um 1973 skizzierte Enzensberger für Unseld ausführlich ein lateinamerikanisches Programm: Onetti, Rulfo, Sábato. Zur selben Zeit suchte Mechthild („Michi“) Strausfeld (*1945) Kontakt zum Suhrkamp Verlag; sie hatte über Márquez promoviert und schickte Unseld eine Liste der nach ihrer Meinung wichtigsten lateinamerikanischen Schriftsteller – der Beginn eines Programmschwerpunkts. Mehr
Foto: DLA Marbach
Zur Buchmesse 1976:
Am 20. April 1983 traf Unseld Cortázar ein letztes Mal bei einem Verlagsessen in Paris, an dem auch der Schweizer Schriftsteller Paul Nizon teilnahm. Im selben Jahr konnte Cortázar für wenige Tage nach Buenos Aires zurückkehren, wo er auf offener Straße gefeiert wurde. Kurze Zeit später, am 12. Februar 1984, starb er an Leukämie.
Werbung für Julio Cortázar
1974 nahm Unseld Michi Strausfeld unter Vertrag und bereitete mit ihr für Herbst 1976 einen Auftritt vor, der in der Geschichte des westdeutschen Buchhandels seinesgleichen sucht: Auf einen Schlag sollten bei Suhrkamp Bücher von 17 verschiedenen Autor:innen aus Lateinamerika erscheinen. Der Verlag gab zum Buchmesse-Schwerpunkt eine eigene Lateinamerika-Zeitung heraus und konnte mit Diskussionsrunden, Empfängen und Festen für ,seine‘ Autor:innen das Programm dominieren: „17 Autoren schreiben einen Roman des lateinamerikanischen Kontinents“. Julio Cortázar, dessen Anwesenheit auf der Buchmesse 1976 Aufsehen erregte, wurde von Unseld jahrelang umworben: 1981 konnte er dessen Hauptwerk „Rayuela. Himmel und Hölle“ (1963) herausgeben.
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Gratulation zum Nobelpreis:
Octavio Paz in Deutschland (1980)
Octavio Paz, den Unseld im Mai 1979 in Paris persönlich kennenlernte, war für ihn ein Autor mit geradezu Goetheschem Format: „Eine imponierende Erscheinung. Poet und Wissenschaftler, Weiser und Wissender […]. Und für ihn ist das Wichtigste: der höchste Wert ist nicht die Zukunft, sondern die Gegenwart.“ 1980 organisierte der Suhrkamp Verlag eine große Deutschlandreise für Paz, auf der er mit führenden Persönlichkeiten aus Literatur und Politik zusammentraf. 1984 wurde Paz der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels zugesprochen, 1990 der Nobelpreis für Literatur.
Lateinamerika war zu einer Art literarischem Gütesiegel geworden. Julio Cortázar hatte das bereits 1976 in einem Interview mit der ZEIT vorausgesehen: „Ich glaube nicht, daß sie die originellste Literatur ist, aber wohl, daß sie die größte innere Kraft aufweist gegenüber einem ziemlich universalen Phänomen der Austrocknung der Literatur, die sich weitgehend um sich selber dreht und sich mit der Selbstanalyse des Textes begnügt, also eine Art Meditation der Literatur über die Literatur darstellt.“
Foto: DLA Marbach.
Mit freundlicher Genehmigung der Agentur Carmen Balcells
Rückseite der Postkarte Cortázars an Unseld vom 6.1.1982, DLA Marbach
Mit freundlicher Genehmigung der Agentur Carmen Balcells
Julio Cortázar an Siegfried Unseld (1982)
„Don’t eat the apples. They look rather stony to me“, empfiehlt der argentinisch-französische Autor Julio Cortázar seinem deutschen Verleger Siegfried Unseld in einer auf Englisch geschriebenen Postkarte vom 6. Januar 1982. Die Postkarte zeigt ein Motiv des belgischen Malers René Magritte. Cortázar, der in Brüssel geboren wurde, verbrachte nach weiteren Stationen in Europa Kindheit und Jugend in Argentinien und emigrierte 1951 nach Frankreich. Er war mit zahlreichen europäischen Intellektuellen vernetzt und ein Brückenbauer zwischen europäischer und lateinamerikanischer Kultur. Die Postkarte an Siegfried Unseld zeugt von der engen Lektor-Autor-Beziehung. 1981 war Cortázars „Rayuela“ bei Suhrkamp erschienen.
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Gutachten zu Clarice Lispectors „Perto do coração selvagem“ („In der Nähe des wilden Herzens")
Die brasilianische Literatur in deutscher Übersetzung fristete zunächst ein Schattendasein im dominant spanischsprachigen Bereich des Lateinamerika-Programms des Suhrkamp-Verlags. Es ist dem unermüdlichen Einsatz von wichtigen Mittlerfiguren wie Curt Meyer-Clason und Mechthild „Michi“ Strausfeld zu verdanken, dass die brasilianische Literatur in deutscher Übersetzung in Deutschland rezipiert wurde. Im Gutachten zu Lispectors „Nahe dem wilden Herzen“ weist Strausfeld auf den international umkämpften Markt und die innerdeutsche Konkurrenz hin.
Clarice Lispector (1920–1977) gilt als eine der wichtigsten Autor:innen der modernen brasilianischen Literatur. Bevor ihre Werke in Deutschland erschienen, waren sie bereits international rezipiert und beispielsweise in den USA (bei Alfred A. Knopf) und in Frankreich (Gallimard) veröffentlicht worden. Der Roman erscheint 1981 als „Nahe dem wilden Herzen“ in der Übersetzung von Ray-Güde Mertin bei Suhrkamp, nachdem „A imitação da rosa“ („Die Nachahmung der Rose“) in der Übersetzung von Curt Meyer-Clason bereits in den 60er-Jahren im Claassen-Verlag erschienen war.
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Zweite Seite des Briefs von Hans Bayer an Walter Boehlich, 31.7.1964.
Lateinamerika-Kolloquium
ausgewählt und kommentiert von Douglas Pompeu
Sommer 1964: In einem Brief des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung an den damaligen Suhrkamp Verlags-Cheflektor Walter Boehlich sticht eine kurze Liste mit einigen der prominentesten Namen des lateinamerikanischen Booms hervor, dessen Echo erst zehn Jahre später bei den deutschen Leserinnen und Lesern ankommen sollte. Der Brief zeichnet nicht nur das dauerhafte und operative Verhältnis zwischen der Kulturpolitik des Auswärtigen Amtes und den Verlagen in der BRD nach, sondern bringt auch die Vermittlerfigur Hans Bayer in den Vordergrund, der in jenem Jahr für die Organisation des zweiten Kolloquiums der lateinamerikanischen Schriftsteller in Berlin zuständig war. Bayer schrieb an verschiedene Verlage mit der Absicht, Vorschläge und Unterstützung für die Veranstaltung zu gewinnen. Das Thema des Kolloquiums lautete „Die Stellung des Schriftstellers im Wandel unserer Welt“. Die FAZ bemerkte in einer kurzen Rezension vom 2. Oktober, dass die Meinungsverschiedenheiten an diesem Punkt besonders heftig gewesen seien.
Das Ereignis fand in einem auf den ersten Blick erstaunlichen Rahmen statt, nämlich im Kontext der Sonderschau „Partner des Fortschritts – Lateinamerika“, die im Zusammenhang mit der Deutschen Industrieausstellung des Jahres veranstaltet wurde. Parallel zu diesen Handels- und Wirtschaftsaktivitäten wurde eine lateinamerikanische Kulturwoche veranstaltet. All dies fand in der Kongresshalle im Berliner Tiergarten statt. Die größte Sensation war wohl, dass Jorge Luis Borges tatsächlich mit María Esther Vázquez, seiner Privatsekretärin und Vertrauten, anreiste. Dies wollte Walter Boehlich bis zum Schluss nicht glauben, wie aus der Korrespondenz hervorgeht.
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Ein lateinamerikanisches Programm
Suhrkamps Lateinamerika-Programm prägte die Rezeption lateinamerikanischer Literatur im deutschsprachigen Raum über mehrere Jahrzehnte.
Dieser Erfolg geht zu einem großen Teil auf die Vision des Verlagschefs Siegfried Unseld zurück, ein lateinamerikanisches Programm zu etablieren, die Unseld bereits in Briefen aus den 1960er-Jahren mehrfach äußert und die im Verlauf der 1970er-Jahre in Zusammenarbeit mit engagierten Agent:innen, Übersetzer:innen und Lektor:innen immer konkreter wird. Ab 1972 ist in den Briefen explizit von einem eigenen Lateinamerikaprogramm die Rede. Mitte der 1970er-Jahre nimmt Suhrkamp die ersten Titel lateinamerikanischer Literatur in das Verlagsprogramm auf, 1976 folgt die Frankfurter Buchmesse mit Lateinamerika-Schwerpunkt. 1984, als Octavio Paz Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels wird, kann der Verlag bereits auf ein eindrucksvolles Programm lateinamerikanischer Literatur zurückblicken. Mit Texten von Alejo Carpentier, Julio Cortázar, Clarice Lispector, Juan Carlos Onetti, Octavio Paz und João Guimarães Rosa präsentierte der Verlag viele der wichtigsten Autor:innen des spanisch- und portugiesischsprachigen Lateinamerikas, die auch in der deutschen Gegenwartsliteratur deutlich erkennbare Spuren hinterlassen haben.
Foto: DLA Marbach
Carpentier in Deutschland
ausgewählt und kommentiert von Carmen Reisinger
Der 1980 verstorbene kubanische Schriftsteller Alejo Carpentier wurde früh, noch vor dem sogenannten ‚Lateinamerika-Boom‘, im deutschsprachigen Raum eingeführt. Während die ersten deutschen Publikationsrechte Carpentiers von Piper und Insel noch günstig erworben werden konnten, war das Interesse des Buchmarkts im Zuge der (nicht linear) zunehmenden Rezeption lateinamerikanischer Literatur 1977 so weit gestiegen, dass sich zwei große deutsche Verlage gegenseitig bei der Erwerbung von drei Übersetzungslizenzen überboten. Das erste Angebot Suhrkamps von 31.000 DM stieg so innerhalb kurzer Zeit auf 60.000 DM durch S. Fischer. Eine von Fischer im Jahr zuvor publizierte Carpentier-Übersetzung („El recurso del método“ – „Staatsraison“) hatte jedoch eine ebenso ausführliche wie vernichtende Kritik durch den ehemaligen Suhrkamp-Lektor Walter Boehlich in der ZEIT erhalten, dass der mit Suhrkamps Lateinamerika-Scout Michi Strausfeld in Kontakt stehende Carpentier seinen Londoner Agenten Gornall anwies, das um 10.000 DM niedrigere Angebot Suhrkamps anzunehmen.
Diverse Dokumente, die sich im DLA befinden – wie dieses Schreiben von Michi Strausfeld vom 12.03.1977 –, zeugen von dieser Auseinandersetzung.
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Der Autor und sein Übersetzer: Pablo Neruda und Erich Arendt
Die Werke des chilenischen Dichters Pablo Neruda wurden in Deutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – auch im Kontext der Rezeption der politischen Ereignisse in Chile durch die 1968er-Generation – populär. Wesentlichen Anteil daran hatten Hans Magnus Enzensberger, der Nerudas Gedichtzyklus „Die Raserei und die Qual“ übersetzte, und der Lyriker und Übersetzer Erich Arendt. Arendt war der spanischen Sprache und lateinamerikanischen Kultur vor allem durch sein eigenes Schicksal als Exildichter in Kolumbien verbunden. 1950 siedelte er in die DDR über und profilierte sich insbesondere durch die Übersetzung des über 15.000 Verse umfassenden „Canto General“ von Pablo Neruda.
Während Enzensberger primär in Westdeutschland agierte und neben seiner eigenen Tätigkeit als Dichter auch als Essayist, politischer Intellektueller, Literatur-Scout für den Suhrkamp-Verlag, Herausgeber und Übersetzer tätig war, machte sich Arendt in der DDR für die Publikation der Werke Nerudas in deutscher Sprache stark. Er übersetzte – gemeinsam mit Stephan Hermlin – Nerudas Gedichtzyklus „Spanien im Herzen“, der Nerudas Erfahrungen mit dem Spanischen Bürgerkrieg thematisiert und 1956 im Verlag Volk und Welt erschien. Im engen Kontakt mit Neruda versichert sich Arendt kurz darauf der Exklusivität der deutschen Übersetzungsrechte.
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João Ubaldo Ribeiro: Brasilien, Brasilien
1988 erscheint bei Suhrkamp João Ubaldo Ribeiros Roman „Brasilien Brasilien“ – nach „Sargento Getulio“ (1984) bereits der zweite Roman des Autors in deutscher Übersetzung – übertragen von Curt Meyer-Clason und einem gewissen Jacob Deutsch, einem Pseudonym für die nachträgliche Glättung und Überarbeitung der problematischen Übersetzung. Mit diesem Roman, der über drei Jahrhunderte hinweg die Geschichte des brasilianischen Volks schildert, beginnt auch Ribeiros kommerzieller Erfolg in Deutschland. Immer wieder wird der Roman – im Original „Viva o povo brasileiro“ (wörtl. Es lebe das brasilianische Volk) – mit García Márquez‘ „Hundert Jahre Einsamkeit“ verglichen. Das Phantastische, Epische und Geheimnisvolle des Magischen Realismus spielt auch beim Verkauf und beim langen Ringen um den deutschen Titel eine entscheidende Rolle.
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