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Systemwechsler

Wenn Menschen, Texte oder Dinge die Systeme wechseln, so ändert sich oft auch der Hintergrund, vor dem sie wahrgenommen werden. Bedeutungen verändern sich. Oft passen sich diejenigen, die ein System wechseln, diesen Bedeutungsveränderungen an (wenn sie es können). Nicht immer tun sie es stillschweigend.

Foto: DLA Marbach

Erläuterungen für West-Leser:innen – Uwe Johnsons „Mutmassungen über Jakob" (1959)

Die Zusammenfassung, die Uwe Johnson seinem ersten veröffentlichten Roman auf Anraten des Verlags beifügt, soll den Lesenden die Orientierung erleichtern. Am 10. Juli 1959 – dem Tag, an dem sein Name auf das Suhrkamp-Titelblatt gesetzt wird – verlässt Johnson die DDR über die Stadtbahn nach West-Berlin. Mit seinem deutsch-deutschen Spionageroman wird er über Nacht im Westen berühmt, gerät aber in den Ruf einer nebulösen „Mutmaßungs-Poetik“.

Foto: DLA Marbach

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Willkommen im Westen – Siegfried Unseld an Peter Huchel 1971

Peter Huchel, 1903 in Berlin-Lichterfelde geboren, wird 1949 Chefredakteur der Literaturzeitschrift „Sinn und Form“ der Deutschen Akademie der Künste in Ost-Berlin und erhält 1951 den Nationalpreis der DDR. Nach Bertolt Brechts Tod 1956 häufen sich die Angriffe auf Huchel, sodass er 1962 seinen Redaktionsposten niederlegt. Als er 1963 den Fontane-Preis für den im selben Jahr im S. Fischer Verlag erschienenen Lyrikband „Chausseen, Chausseen“ erhält und sich weigert, diesen West-Berliner Preis abzulehnen, darf er in der DDR weder publizieren noch reisen. Ab 1968 wird auch die an ihn gerichtete Post konfisziert. Nach Interventionen der West-Berliner Akademie der Künste, der Präsidenten des Internationalen PEN-Zentrums und Heinrich Bölls darf er 1971 ausreisen. Sein neuer Verleger Siegfried Unseld heißt ihn willkommen. Bei Suhrkamp erscheint 1972 Huchels Gedichtband „Gezählte Tage“, in dem er den politischen Systemwechsel in Naturmetaphern fasst: „Willkommen sind Gäste, / die Unkraut lieben“.

Foto: DLA Marbach

Perspektivwechsel – Sarah Kirschs Foto der Aussicht aus ihrem Schreibzimmer für Heinz Czechowski (1983)

1977 reist Sarah Kirsch aus der DDR aus, 1983 zieht sie in eine alte Schule auf dem Land in Schleswig-Holstein. Für den Lyriker Czechowski – einen ihrer Weggefährten der „Sächsischen Dichterschule“ aus den 1960er-Jahren, der in der DDR geblieben ist – hält sie den Blick aus ihrem neuen Schreibzimmer mit der Polaroidkamera fest.

„Der Philosoph inmitten der Geschichte – Karl Löwiths Marbacher Nachlass", vorgestellt von Ulrich von Bülow

Karl Löwith (1879–1973), einer der wichtigsten Philosophen des 20. Jahrhunderts, ging 1934 nach Rom ins Exil und 1936 nach Japan, wo er bis Januar 1941 rund vier Jahre lang an der Universität Tôhoku in Sendai unterrichtete, ehe er weiter in die USA ging.

Karl Löwiths Daruma, ein japanisches "Stehaufmännchen"

ausgewählt, fotografiert und kommentiert von Günter Figal

Es sind nicht viele Dinge, die Karl Löwith in Japan gefunden und bei seiner Abreise mitgenommen hat, zunächst nach Connecticut, dann nach New York und schließlich nach Heidelberg. Zumindest sind nicht viele erhalten, ihre Anzahl im Deutschen Literaturarchiv in Marbach ist überschaubar. Und es sind keine außergewöhn­lichen Dinge, zwar einige, die recht schön sind, aber keines, das als Kunstwerk auffiele. Über ihren Besitzer sagen die Dinge – Lackgefäße, ein Sakebecher, zwei Tempelglocken, aber auch eine „Enkelhand“ aus Bambus, mit der man sich auf dem Rücken kratzen kann – so gut wie nichts. Es gibt eine Ausnahme: eine Schnitzerei aus rotem, je nach Licht heller oder dunkler erscheinendem Stein mit schwar­zen Einschlüssen, in Form und Größe einer Walnuss ähnlich. Man erkennt ein strenges Gesicht, bärtig mit groß geöffneten Augen, das von einer Kapuze umhüllt ist. All dies macht die Figur identifizierbar. Es ist eine Darstellung von Bodhidharma, japa­nisch: Daruma, der den Zen-­Buddhismus von Indien nach China brachte und so auch seine Ausbreitung in Japan ermöglichte. Da­ruma­-Figuren gelten dort als Glückszeichen und Glücksbringer.

Löwith hatte Freude an solch kleinen, handwerklich gut gemachten Dingen. Das bezeugt sein Tagebuch der Schiffsreise nach Japan, das einen Gang durch die Altstadt von Shanghai beschreibt und die in den Läden ausgebreiteten „köstlichen“ Handwerksdinge schildert. Man darf annehmen, dass er die Bedeutung der Figur als Glücks­zeichen kannte und nicht zuletzt deshalb von ihr angesprochen war. Glückserfahrung hat nämlich die Reise des Philosophen nach Japan auf besondere Weise bestimmt. Das mag verwundern, denn diese Reise war alles andere als freiwillig. Sie wurde durch die Nürnberger Gesetze erzwun­gen, die den Marburger Privatdozenten aus der Universität ver­trieben und vom bürgerlichen Leben ausschlossen. Schon ganz zu Beginn der Reise besinnt sich Löwith auf das Glück, das in dieser Möglichkeit lag, und später, im Rückblick, betont er das „unwahrscheinliche Glück, vor japanischen Studen­ten dort fortfahren zu können, wo ich in Marburg abbrechen musste“. Es war ein Glück im Unglück und eine produktive Zeit, in der unter anderem sein Hauptwerk „Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts“ entstand. (mehr in Hohe Luft 4/2022)

Foto: DLA Marbach

Siegfried Kracauers Interimspass 1940

Das Leben hängt an einem Papier. Über ein Jahr lang, vom Juni 1939 bis zum August 1940, warten Siegfried Kracauer und seine Frau Lili in Marseille auf ein Immigrations-Visum für die USA. Als sie es endlich erhalten, müssen sie von Frankreich nach Lissabon zum einzigen freien Ausgangshafen kommen. Doch die Durchreise durch das faschistische Spanien ist für „Staatenlose“ gesperrt. Nur mit Hilfe von Freunden erhalten sie einen Interimspass, der 24 Mal abgestempelt werden muss, bis sie acht Monate später, am 25.4.1941, in New York ankommen können.

„Klara Blum. Eine Autorin ohne Grenzen". Mit Zhidong Yang, Xiaocui Qiu und Sandra Richter

Die jüdische Autorin Klara Blum, genannt Dshu Bailan (1904–1971), gehört zu den schreibenden Abenteurerinnen des 20. Jahrhunderts. Geboren in der Bukowina, zog Blum bald nach Wien, arbeitete in Moskau an Brechts Zeitschrift „Das Wort“ mit und schrieb aus Paris an den Chefredakteur der deutsch-jüdischen Exilzeitung „Aufbau“.

Foto: DLA Marbach

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Mit dem Pseudonym „[Doktor] Ritter“, das sich Schiller auf der Flucht zugelegt hat, unterzeichnet er 1782 in Mannheim auch einen Beleg für eine Buchausleihe: „Von H[errn] Hofpred[iger] Schakespear Othello u. Julie.“

Ring, den Friedrich Schiller bei seiner Flucht von Stuttgart nach Mannheim 1781 getragen haben soll

Der 21-jährige Friedrich Schiller, der sich als Autor der „Räuber“ mit den Attributen des Unbewussten und Nachtseitigen inszeniert und vom württembergischen Herzog Schreibverbot erhalten hatte, soll sich für seinen Systemwechsel in der Nacht vom 22. auf den 23. September 1781 sogar einen passenden Ring ausgesucht haben, der gegen jeden absolutistischen Herrscher trotzt: Der bocksbeinige Satyr ist in der griechischen Mythologie ein zotteliger Waldgeist im Gefolge des Dionysos, des Gottes des Weines, der Fruchtbarkeit, Freude und Ekstase.

Foto: DLA Marbach

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Nach dem Wiederaufleben der Verlagsproduktion sehe ich mich in der Lage, Ihnen ein äußerst interessantes Werk zu übersenden. Es ist die heroische Tragödie:  

„Der Geuse“.  

Dieses Werk wurde von der damaligen Reichsdramaturgie verboten, nachdem schon die Proben am Hessischen Landestheater Darmstadt begonnen hatten. Wir mußten alle Vorbereitungen zur Uraufführung abbrechen, die Manuskripte wurden eingezogen, – es gelang mir aber, eins zu retten, das ich Ihnen jetzt in den Bühnenstreichungen übersende.  

Das Werk selbst wird Ihnen bezeugen, warum es der Nationalsozialismus verbot: es ist eine Anklage gegen Terror, Gestapo, Vergewaltigung und ein Aufruf nach Recht und Freiheit und Frieden. Da das Stück auch noch in den Niederlanden spielt, zog sich der Haß des Naziregimes völlig auf das Werk. Ich mußte von da ab alle meine Arbeiten der Reichsdramaturgie einsenden und wurde in den meisten Fällen literarisch ausgeschaltet.  

Jetzt aber ist die Zeit des Rechtes gekommen, und ich lege das Werk vertrauensvoll in Ihre Hände. Es wird im neuen deutschen Theater seinen Ehrenplatz finden.  

Indem ich Ihnen für Ihr Interesse und Ihre Bemühungen im Voraus herzlich danke, begrüße ich Sie hochachtungsvoll:  

Heinz Günter Konsalik  

Streichung im Briefkopf – Heinz G. Konsalik am 27.11.1945 an den Suhrkamp Verlag

Konsalik benutzt sein Briefpapier auch nach dem Ende der Naziherrschaft weiter. Ob er seine Mitgliedschaft in der Reichsschrifttumskammer selbst ausstreicht oder ob die Anpassung des Briefkopfes an die aktuellen politischen Verhältnisse durch die Hand eines Verlagsmitarbeiters erfolgt, ist nicht bekannt. Ein Suhrkamp- bzw. Fischer-Autor wird Konsalik jedenfalls nicht: Sein Bestseller „Der Arzt von Stalingrad“ (eines der erfolgreichsten Bücher der Nachkriegszeit) erscheint 1956 bei Kindler.

Foto: DLA Marbach

Alfred Kerr: „Die Diktatur des Hausknechts" (1934)

Gesichtslos (also auch: sinn-los, nämlich ohne Augen, Ohren und Nase), mit kleinstem Kopf, wuchtigem Körper und blutiger Peitsche – ebenso zornig wie die Titel-Karikatur sind die lyrischen Pamphlete gegen das NS-Regime, die Alfred Kerr hier zusammenstellt. Als einer der bestgehassten Intellektuellen der Weimarer Republik steht er nicht nur wegen seiner jüdischen Herkunft ganz oben auf den schwarzen Listen der Nazis. Schon im Februar 1933, kurz nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler, muss er ins Exil, wo er sofort publiziert, was er denkt.

Foto: DLA Marbach

Anna Seghers: „Transit" (1948)

Im Sommer 1940, als der Norden Frankreichs bereits durch die vorrückenden Truppen Hitlers besetzt ist, sammeln sich die Flüchtlinge im südfranzösischen Marseille und hoffen auf die Möglichkeit, nach Übersee zu entkommen. Anna Seghers schreibt über eigene Erfahrungen, die sie in der Geschichte eines Ich-Erzählers fiktionalisiert: Sie beginnt ihren Roman in Cafés im französischen Exil und beendet ihn im Exil in Mexiko. Auf dem Titelbild ihres bei Curt Weller in Konstanz erschienenen Romans stehen die Stationen dieser langen Reise.

Foto: DLA Marbach

Eine Welt aus einer verbotenen Welt – Die Rettung von Liao Yiwus Manuskripten aus dem Gefängnis

Im Winter 1992 schreibt der als „reaktionäre[r] Literat[]“ verurteilte Liao Yiwu (geb. 1958) in einem Provinzgefängnis heimlich seinen autobiografischen Roman „Überleben“. Nicht nur, um überleben zu können, sondern vielmehr, um es auch zu wollen. Seine Tage im Gefängnis beginnen um 3 Uhr mit einem Morgenappell; darauf folgt die sogenannte „Umerziehung des Geistes“ in Form kräftezehrender körperlicher Arbeit. Mit der übriggebliebenen Zeit und Kraft schreibt er dann auf Gefängnispapier Tag und Nacht seine Zeilen und seine Welten auf.

Dass diese fragilen Manuskripte aus einer Gefängniszelle überhaupt nach Marbach kommen konnten, ist vor allem dem ehemaligen Journalisten Yang zu verdanken, der nach politischen Untersuchungen in den 1950er Jahren gänzlich im Gefängnis vergessen und dort zur Putzkraft geworden war. Der ‚Mann ohne Namen‘ schmuggelte regelmäßig und immer rechtzeitig vor Razzien Liao Yiwus Manuskripte heraus. So fragil die Hoffnungen auch sein mochten, konnten manche doch ihre Verwirklichung finden, zum Beispiel: „Trotz aller Verbote wird nicht alles lautlos in Vergessenheit geraten.“

Foto: DLA Marbach

Was bleibt nach einem Schiffbruch? Hans Blumenbergs Leselisten, erste Seite

Die von 1942 bis 1986 akribisch dokumentierten Leselisten des Philosophen Hans Blumenberg hatten ihren Anfang in einem „Schiffbruch“. Nach der Bombardierung Lübecks am 28. März 1942 verliert der 22-jährige Blumenberg, der trotz intellektueller Hochbegabung seit 1939 nicht studieren darf, auf seiner Lebensfahrt nun auch noch seine Jugend- und Familienbibliothek. Unrettbar verloren gegangen sind mit den Büchern auch die Lesespuren, ein Zufluchtsort und die Lebenskontinuität eines „absoluten Lesers“ (Rüdiger Zill).

Geblieben sind aber die Erinnerungen an die „vor 1942 gelesene[n] Bücher“: über die Kulturgeschichte Afrikas, über die römisch-griechische Antike und vor allem aus der schönen Literatur. So finden sich in der Leseliste neben Goethes „Dichtung und Wahrheit“ auch Stifters „Der Nachsommer“ und gleich zweimal Gottfried Kellers „Der grüne Heinrich“. Hinter Hans Carossas Namen notiert er statt eines einzelnen Titels einfach und stolz: „alle Werke“.

Am Anfang steht das Wort und am Ende bleibt das Wort – damit auch der Geist. Denn durch seine Kraft können sich trotz aller Verluste neue Welten entfalten, wie Blumenbergs spätere Monumentalwerke und Essays triumphal demonstrieren. 1979 nimmt der Philosoph das Motiv des Schiffbruchs retrospektiv wieder auf: „[M]an soll den Kindern nur solche Besitztümer auf den Lebensweg mitgeben, die noch aus einem Schiffbruch gerettet werden können.“

Foto: DLA Marbach

"Ballade von der reisenden Anna" (1965) – Helga M. Novak innerhalb und außerhalb des "Leselandes DDR"

Da sie illegale, regimekritische Texte verteilt hat, wird Helga M. Novak 1966 die DDR-Staatsbürgerschaft aberkannt. Bereits vor ihrer Ausbürgerung erscheinen ihre Werke im westdeutschen Luchterhand Verlag, so auch ihr Debüt „Ballade von der reisenden Anna“. Die letzten Verse des Gedichtbandes lauten berühmterweise: „der schlechtste Staat auf dieser Welt / ist der der sich die Spitzel hält[.]“

Novak zieht 1966 nach Island, versichert aber ihrer Lektorin bei Luchterhand, Elisabeth Borchers, in einem Brief, dass sie ihr Publikum weiterhin in der DDR sieht: „Wenn Ihr wieder nach Leipzig zur Messe fahrt, macht ein bisschen Reklame für mich; ich will an den DDR-Leser heran. Für den schreibe ich schließlich immernoch.“

Foto: DLA Marbach

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Mein Roman ist nun vier Monate bei Bertelsmann!! Aber jetzt habe ich gemahnt Was sagen Sie zu dem Nobelpreis? Unsre Gruppe, der Mitgründer ein Nobelpreisträger und nun ein Mitglied. An sich finde ich leider die Gedichte völlig unverständlich. Nelly Sachs begann eine Korrespondenz mit mir, aber ihre Kunst ist so wenig mein Fischkessel, dass ich die Korrespondenz für einen Biertanz hielt. Hingegen gibt es hier am 3. Programm eine Serie „America after the bomb“. Hinreissend! Original Aufnahmen von Mac Carthy Verhören. Frightening und unbegreiflich. Gestern war nun die Beat Bewegung und wir hörten Vorlesungen von Alan Ginsberg und Kerouac. Es war wunderbar. Garnicht kompliziert sondern ganz einfach. Leben Sie beide wohl!

Herzlichst

"Frightening und unbegreiflich" – Gabriele Tergit und "Die Schwierigkeiten des Exils"

ausgewählt und kommentiert von Anna Weber

Wie viele Exilschriftsteller:innen ihrer Generation muss Gabriele Tergit ihr Schreiben über mehr als einen System- und Sprachwechsel hinweg retten. Ihre Karriere als Journalistin beginnt 1915 noch im deutschen Kaiserreich, kommt aber erst im liberaleren Klima der Weimarer Republik in Schwung. Nachdem mit dem nächsten Systemwechsel die SA im März 1933 ihre Wohnung überfällt, flieht Tergit über die Tschechoslowakei ins britische Mandatsgebiet Palästina. Nach fünf Jahren lässt sie sich in London nieder, wo sie bis zu ihrem Tod 1982 bleibt.

Als längste amtierende Sekretärin des PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland, von 1957 bis 1981, interessiert sie sich auch für die Systemwechsel ihrer Schriftstellerkolleg:innen. Bislang unveröffentlicht lagern im DLA Marbach Tergits Vorarbeiten zu einem Projekt mit dem Arbeitstitel „Über die Schwierigkeiten des Exils“. Mitte der 1960er-Jahre korrespondiert sie dafür mit Zeitzeug:innen der Emigration in den frühen 1940er-Jahren, sammelt historische Zeitungsausschnitte und lässt sich Kopien von Korrespondenzen zusenden, die die komplexe Organisation von Visa für Kolleg:innen Tergits wie Franz Werfel und Nelly Sachs belegen. Dass sie auch Schicksale späterer politischer Verfolgung in den Ländern des Exils nicht ausklammert, belegt ihr Kommentar zu den anti-kommunistischen Verhören der McCarthy-Ära in den USA in einem Brief vom 27. Oktober 1966 an Will Schaber (ab 1967 Redakteur bei Aufbau sowie Präsident des Exil-PEN): „Frightening und unbegreiflich“.

Foto: Akademie der Künste, Berlin

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Kopie des DDR-Personalausweises von Ronald M. Schernikau

Foto: Akademie der Künste, Berlin

Aus der BRD in die DDR – Ronald M. Schernikau 1988 an Klaus Höpcke

ausgewählt und kommentiert von Christoph Kapp und Thomas Keck

Den Weg aus der BRD in die DDR verfolgte über Jahre Ronald M. Schernikau (1960–1991), wie dieser Brief an den stellvertretenden Kulturminister der DDR mit dem Verantwortungsbereich Literatur, Klaus Höpcke (geb. 1933), eindrücklich belegt. Die westdeutsche Schriftstellerin Gisela Elsner (1937–1992) hatte Höpcke anläßlich einer Lesetournee durch die DDR auf ihren langjährigen Vertrauten aufmerksam gemacht. Horst Schmitt (1925–1989) war Vorsitzender der Sozialistischen Einheitspartei West-Berlins; deren Tageszeitung „Die Wahrheit“. Der mitgesandte Text, „Irene Binz“, basiert auf Gesprächen, die der Schriftsteller mit seiner Mutter geführt und in einer letzten Bearbeitung in Blankverse übertragen hatte. Staatsbürger der DDR wurde Schernikau schließlich am 1. September 1989.

Das Archiv der Akademie der Künste Berlin bewahrt seinen Nachlass, in dem sich auch dieser Brief(entwurf) findet. In den nächsten Jahren entsteht im Rahmen der Werkausgabe des Verbrecher Verlages eine sorgfältig kommentierte Edition der Briefe von Ronald M. Schernikau.

Eine Kopie seines DDR-Personalausweises (das Original musste er 1990/91 gegen den bundesdeutschen Personalausweis eintauschen) hing gerahmt in Schernikaus Arbeitszimmer in Berlin-Hellersdorf.

Foto: Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin

"Hiervon nichts wegwerfen" – Wissenschaftsgeschichte im Systemwechsel

ausgewählt und kommentiert von Lydia Schmuck

Die Notiz von Karlheinz (Carlo) Barck „Hiervon nichts wegwerfen“, verfasst am 20.02.2012, d.h. wenige Monate vor seinem Tod, findet sich zuoberst abgeheftet auf einem Ordner mit Dokumenten zur Gründungsgeschichte des heutigen Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung in Berlin, das aus dem Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR (ZIL) hervorgegangen ist.

Neben dem von Barck verfassten und zur Diskussion gestellten Konzeptpapier zu den Arbeitsinhalten des neuen interdisziplinären Forschungszentrums enthält der Ordner auch Korrespondenzen, zentrale Artikel, etwa zur Geschichte der Literaturwissenschaft in der DDR und organisatorische Materialien wie die Jahresplanung. Die aus den Jahren 1990 bis 1997 stammenden Dokumente umfassen die 4-jährige Übergangszeit bis zur Institutsgründung. Damit dokumentieren die Materialien die Neuausrichtung literaturwissenschaftlicher Forschung in der Wende-Zeit. Zusammen mit den Materialien zur Konzeption und Redaktion der „Ästhetischen Grundbegriffe“ sind sie zentrale Dokumente der Wissenschaftsgeschichte im Systemwechsel – und zugleich ein Zeugnis des Archivbewusstseins von Carlo Barck.

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